Wilhelm und Boris in der Sushi-Bar
- Felix Thiele
- 24. Sept. 2022
- 9 Min. Lesezeit
Ein Beamter und ein Regierungschef streiten über die Zukunft der Demokratie
Vor kurzem sass ich in einer Sushi-Bar und wartete auf meine Bestellung. Da bemerkte ich mir schräg gegenüber zwei Herren, die in ein angeregtes Gespräch vertieft waren. Der eine war etwas altmodisch gekleidet und trug eine Art Gehrock. Sein Gegenüber nannte ihn Will oder Wilhelm. Offenbar war dieser Wilhelm gerade von einer längeren Rucksack-Reise mit seinem Bruder aus Südamerika zurückgekehrt, so dass Boris, so der Name des anderen Herrn, im Übrigen ein Engländer, Wilhelm zwischendurch über neuere politische Entwicklungen aufklären musste, die dieser vermutlich aufgrund seiner Reise verpasst hatte. Auch Boris war gediegen gekleidet, allerdings schien er diesbezüglich eine Marotte zu haben: ein Hemdzipfel hing aus der Hose, die Haare waren kunstvoll verwuschelt, kurz er hatte sich sorgfältig gestylt; wenn ich mich nicht täusche, nennt man diesen derzeit in England beliebten Stil: Sloppy-B. Die beiden diskutierten offenbar schon eine Weile, denn ihr Austausch hatte eine gewisse Geschmeidigkeit erreicht und es ging Schlag auf Schlag. Ich habe mich bemüht das Gespräch der beiden, so gut es eben aus der Erinnerung geht, hier wiederzugeben.
Boris: Ach Will, das ist ja alles schön und gut, aber siehst Du denn nicht, dass die moderne Demokratie eine Massendemokratie ist, in der jede Menge Irre und Mindergebildete alles mögliche Zeug von sich geben dürfen. Leute, die wir früher mit der Mistgabel in den Schweinestall oder mit dem Gewehr in den Schützengraben geschickt hätten, die heute aber Wählen dürfen?
Wilhelm: Lieber Boris, ich möchte die Existenz, der von dir so genannten Irren und Mindergebildeten, gar nicht grundsätzlich in Abrede stellen, vielleicht würde ich sie lieber Mitglieder des einfachen Volkes nennen.
B: Meinetwegen. So lange sie ruhig sind und Fußball gucken, mag das mit dem einfachen Volk ja noch angehen. Aber wählen dürfen sie trotzdem und dass, obwohl die meisten von denen in der Woche nicht mehr lesen als am Samstag die Startaufstellung von Manchester United oder Arsenal oder was für einem gottverdammten Verein sie sich sonst zugehörig fühlen.
W: Aber Boris, diese einfachen Leute sollten doch durch Tradition und Anschauung wissen, wo ihr Platz ist, und einsehen, dass die gebildeten Stände und die Regierung das Beste für sie tun werden; zum Wohle aller, also auch zu ihrem.
B: Es mag ja sein, Wilhelm, dass bei dir zu Hause, wo es ja schon eher etwas ländlich ist, noch gemacht wird, was Pfarrer und Apotheker deinen einfachen Leuten sagen, aber in London läuft das doch heute ganz anders. Selbst hier in diesem kleinen Uni-Städtchen heißen die netten jungen Leute, die mir vorhin drüben in der Kaffe-Bar einen Latte to Go gemacht haben nicht mehr Friedrich, Gustav oder Alexandra. Nein, sie heißen Baschar, Nasri oder Gustavo. Hast Du mal überlegt, warum diese Leute einen immer mit einem Lächeln auf den Lippen begrüßen, auch wenn Du gereizt und barsch bist?
W: Nun, ich denke sie lächeln, weil ihre Aufgabe sie ausfüllt, ihnen und ihrem Leben Bedeutung verleiht: So wie der Gärtner, der einen Garten pflegt, diesen Garten fast noch mehr besitzt, als der Gartenliebhaber, der diesen gleichen Garten nur anschaut und genießt. Wenn diese netten jungen Leute, nicht nur einen Kaffee brühen können, sondern die dafür verwendete Maschine mit all ihren Möglichkeiten kennen und bedienen können und sie abends nach getaner Arbeit noch pflegen und polieren und auch ihren Geschäftsräumen die nötige Fürsorge angedeihen lassen und ihren Betrieb gewissenhaft und mit Hingabe führen, nicht weil sie müssen, sondern weil sie es wollen, dann haben sie wahrhaft ihre Aufgabe erfüllt. Kein Wunder das sie zufrieden und fröhlich sind!
B: Will, manchmal glaube ich, du lebst in einem anderen Jahrhundert, so romantisches Zeug, wie du da von dir gibst. Diesen Leuten wird von jetzt auf gleich gekündigt, wenn sie nicht freundlich und zuvorkommend sind, um nicht zu sagen unterwürfig! Sie sind das, was man heute die Serviceklasse nennt. Ein riesiges Heer ökonomisch Abgehängter, die praktisch keine Chance haben, jemals aus dieser Situation herauszukommen. Aber sie dürfen wählen - also brauche ich sie. Mit deinen „Der Landman und die Scholle“ Träumen kriegst du ihre Stimmen aber sicher nicht!
W: Mach dich ruhig lustig über mich, dass Problem, dass du mit deiner Massendemokratie hast, Boris, ist offensichtlich: wenn du einfach sagst, die Massen machen halt irgendwas, leben so vor sich hin und alle vier oder fünf Jahre dürfen sie wählen, dann verlierst du viele deiner Bürger für die gemeinsame Sache.
Schließlich ist es die Aufgabe, des Staates seinen Bürgern zu helfen, sich zu bilden, ihre Begabungen zu finden, nach dem Besten in sich zu suchen und es nach Möglichkeit zu verwirklichen. Wenn du als Politiker diesen Anspruch aufgibst, lässt du deine Wähler im Stich.
B: Das sind doch Ideen von gestern, Wilhelm, nein eher von vorgestern. Die Leute wollen genug Geld für Essen, Alkohol, einen 90 Zoll Fernseher und einmal oder zweimal im Jahr nach Madeira fliegen. Und wir Politiker bedienen das, damit wir wiedergewählt werden.
W: Es ist zum Haare ausraufen. Genau diese Diskussion habe ich schon mit John Stuart geführt.
B: Du meinst, als er geschrieben hat, er wolle lieber ein unglücklicher Sokrates sein als ein glückliches Schwein?
W.: Ja, genau. Und er hat ja eigentlich völlig recht. Dann muss die Gesellschaft aber auch helfen, wenn jemand sein Leben nicht in den Griff bekommt, dann muss der Staat ihm helfen, ihm ein Angebot machen, damit er seine Gaben entwickeln kann oder um die Formulierung Kants aufzugreifen, man muss ihn befähigen, sich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien. Und John Stuart, so befürchte ich, hat das Individuum aufgegeben. Nicht was seinen eigenen persönlichen Anspruch an sich selbst angeht, aber den Staat will er offenbar nicht mehr verpflichten, sich um jeden Einzelnen zu kümmern. Es scheint ihm zu reichen, dass der Staat dafür sorgt, dass alle satt werden und, wie du sagst, einen großen Fernseher bekommen.
B: Oh, mein lieber schöngeistiger Wilhelm, dann möchte ich doch gerne mal sehen, dass du nach South London gehst, und unseren Migranten Bildung bringst. Ich fürchte allerdings, die werden dich gleich wieder über die Themse zurückjagen, wo dir dann am University College der intellektuelle Prozeß gemacht wird, weil du nicht "woke" genug bist. Will, wir leben nun mal in einer Zeit des Werte-Pluralismus. Und ehrlich gesagt brauchen wir diese Leute. Sie füllen die Regale in den Supermärkten auf, sie wischen unseren Alten in den Pflegeheimen den Hintern ab. Sie putzen unsere Häuser und fahren die Busse und die Tube. Meinst du irgendein Politiker würde es wagen, diesen Leute Bildung aufzuzwingen? Und müssten wir richtige Briten uns dann auch noch für Lehmhütten-Kunst und Reisfeld-Gesänge interessieren?
W: Das was du Pluralismus nennst, ist eigentlich Beliebigkeit. Es kann ja sein, dass das eine Weile gut geht, aber die Beliebigkeit der Werte, die du da propagierst, die führt nicht zu harmonischem Zusammenleben, sondern zur Radikalisierung, weil es ohne Werte nicht geht. Die Menschen brauchen Orientierung. Wenn sie die von unseren Politikern, also auch von dir, nicht bekommen, tauchen plötzlich die Populisten auf, wie dein Freund Donald. Mit einfachen Botschaften bietet er ein chauvinistisches, aber kohärentes Weltbild an. Oder aber Gruppen Gleichgesinnter wenden sich vom System ab und radikalisieren sich. Bei uns gibt es junge Leute, die nennen sich die "Die letzte Generation". Manche von denen glauben, dass man den Klimaschutz mit Gewalt durchsetzen darf und muss. Das sei so eine Art Notwehr. Leider haben diese jungen Leute noch nicht gelernt, das sie nicht im Alleinbesitz der Wahrheit sind.
B: Man muss den Leuten etwas bieten, was sich für sie gut anhört.
W: Gut anhört? Nicht, gut ist?
B: Gut anhört!
W: Boris, Du machst mir Angst!
B: Hör doch erstmal: Du hast sicher gehört, dass wir bei mir zu Hause eine Energie-, Wirtschafts-, Kaufkraft-, und Gesundheits-Krise haben. Das Land ächzt …
W: Ja, aber lass dir sagen, Boris, ich weiß nur zu gut, dass in Krisen oft auch die Möglichkeit eines Neu-Anfangs liegt. Wenn ich an die Krise 06 denke, in der fast alle Hoffnung verloren war! Aber in diesem dunkelsten Moment, hielten unsere besten Köpfe, unsere edelsten Charaktere zusammen, weil sie erkannten, dass die Ehre des Vaterlandes und unser Pflichtgefühl es nötig machten, alle Kräfte zu vereinen und unser Staatswesen von Grund auf zu erneuern. Ich nehme nicht für mich in Anspruch, die treibende Kraft hinter diesem großen Projekt gewesen zu sein, aber ich habe mein Teil zur Entwicklung des Universitätswesens beigetragen.
B: Und für euer Bildungswesen bewundern wir euch Deutsche sogar, obwohl wir das natürlich niemals öffentlich sagen würden.
W: Ich danke dir für deine Aufrichtigkeit - sie bedeutet mir etwas. Und so wie ich Dein Volk kenne - geduldig, mutig seine Pflicht erfüllend - werdet ihr dem Beispiel eurer verstorbenen Königin folgen und auch diese Krisen meistern. Du warst doch selbst in Oxford und kommst aus einer hochgebildeten Familie, du weisst doch wozu der Geistesadel deines Landes in der Lage ist.
B: Und dann? Dann gründen wir Kommissionen, die Monate- wenn nicht Jahrelang diskutieren und derweil gehen die Wahlen verloren. Mit dem Geistesadel gewinnst du keine Wahlen. Aber darum geht es doch in der Politik, oder Wilhelm?
W: Nein, es geht vor allem darum den Bürgern einen Freiraum zu schaffen, in dem sie ihre Persönlichkeit entfalten können. Wenn du glaubst es geht nur noch darum, Wahlen zu gewinnen, an der Macht zu bleiben, dann ist die Demokratie schon verloren.
B: Jetzt will ich Dir mal was erzählen: als wir vor der Frage standen, ob wir, also: ob ich mein Land aus der Brüssler Knechtschaft befreien sollte, da war doch bei denen, die du so vornehmen mein Volk nennst, kaum jemand, der auf diese Frage auch nur ein oder zwei vernünftige Sätze hätte sagen können. Nicht das es gute Argumente gegeben hätte, aber es ist doch so: diese rammdösigen Idioten, die ihre Freizeit im Pub verbringen und ihr letztes Geld versaufen, bevor sie nach Hause gehen und ihre Frauen anschreien, die brauchen Führung. Und wenn ich es nicht gemacht hätte, wer dann? Es ging um die Macht, um nichts anderes. Also habe ich mir etwas einfallen lassen. Irgendwo auf der Welt gibt es doch immer einen, der Dich unterbuttern will. Mal ist er Franzose, mal Hitler und jetzt eben die blonde Blitz-Ursel. Wer gegen solche Leute kämpft, hat bei uns die Sympathien auf seiner Seite. Wenn es dir dann noch gelingt, irgendwie das Empire oder irgendeine andere britische Institution ins Spiel zu bringen, hast Du schon so gut wie gewonnen.
W: Das Empire? Ich will dich nicht verletzten, aber ist das Empire nicht schon lange perdu? Oder glaubst Du wirklich, das die Bedeutung Großbritanniens dadurch steigt, dass Euer König auch über St. Vincent und die Grenadinen herrscht; ein paar nasse Inseln mit nicht mehr als 110.000 Einwohnern, dafür aber mit der kompletten Liste aller Tropenkrankheiten?
B: Also bitte, Wilhelm, … um auf meinen Punkt zurückzukommen: Ich entschied mich also für den Brexit zu kämpfen und nun kommt meine geniale Idee. Wie gesagt, musste es mir gelingen die EU als Angreifer gegen eine britische Institution darzustellen; dann würde ich gewinnen. Aber was sollte ich nehmen? Erst dachte ich daran dass republikanische Brüssel als Gefahr für unsere Monarchie darzustellen. Aber das hätte nicht funktioniert, dass eine deutsche Kommissionspräsidentin die Queen angreift, wo Elisabeth ja ein bisschen so etwas war, wie eure Merkel nur mit Krone und Pomp. Das hätte nicht geklappt.
Kennst du unseren National Health Service, den NHS, unser nationales aus Steuermitteln finanziertes Gesundheitswesen? Niemand bezahlt für seine Behandlung, ob arm oder reich - wobei natürlich klar ist, dass Mitglieder unserer Schicht sich dass, was sie im NHS nicht bekommen, woanders holen. Und es gibt vieles nicht im NHS. Im Grunde genommen ist der NHS vielleicht eine gute Idee: ein solidarisch finanziertes Gesundheitswesen, zu dem jedermann unabhängig von Herkunft und Einkommen Zutritt hat. Aber in der Realität ist der NHS ein bürokratisches, chronisch unterfinanziertes Scheißloch, das überhaupt nur noch funktioniert, weil die Mitarbeiter seit Jahren schon viel mehr arbeiten, als sie müssten und so durch ihr Engagement den Betrieb am Laufen halten. Aber die Briten lieben ihren NHS.
Ich habe also ein bisschen überlegt und herausgefunden, dass wir der EU in der Woche 350 Millionen Pfund überwiesen haben. Und als ich dann versprochen habe, dieses Geld in den NHS zu investieren, statt es nach Brüssel zu schicken, hatte ich meine politische Botschaft, die mich letztlich dann in die Nr. 10 gebracht hat.
W: Ja stimmen die Zahlen denn? Habt ihr wirklich jeden Monat soviel Geld nach Brüssel geschickt? Und habt ihr nichts dafür bekommen?
B: Ach Will, man merkt doch immer weder, dass du den größten Teil deines Lebens als Privatgelehrter verbracht hast. Als du dann in den Staatsdienst gingst, warst du ja auch kein Politiker im engeren Sinne, sondern Beamter. Für politische Strategie hast du halt kein Verständnis! Vertrau mir und lass uns unser Wiedersehen, nicht durch trübe Zahlenspiele vermiesen.
W: Vielleicht hast du recht. Auch erinnere ich mich an einen Ausspruch eines der beiden Weber Brüder, glaube ich, wonach die Politiker ruhig ihre Politik machen sollen, solange die Ministerialverwaltung solide arbeitet.
Aber lass mich dir in aller Freundschaft etwas sagen, mein Lieber, ich bin der Ältere von uns beiden und mache mir Sorgen um dich und dein Land - im Übrigen auch um meines.
Du bist ein Spieler, der im Zweifel eher alles verspielt, als taktisch klug zu sein und sich selbst zu verleugnen, um an der Macht zu bleiben. Deine Sache bist du selbst und sonst nichts weiter. Und darin unterscheidest du dich auch von deinem großen Vorbild Churchill, der in der Lage war, seine durchaus komplexe Persönlichkeit und sein Geltungsbedürfnis in den Dienst einer Sache zu stellen, nämlich der Verteidigung seines Landes gegen die Nazis. Du bleibst immer Boris, der Herrscher über das Kinderzimmer, in dem deine Regeln gelten, aber nur für die anderen und nicht für dich.
Trump ist ein ähnlicher Geselle wie du, denn bei Trump, geht es letztendlich immer auch nur um Trump. ”America First“ ist zwar der Versuch eine größere Sache zu installieren. Aber letztlich stand er sich selbst im Weg, denn seine kindliche oft jähzornige Art, ließ ihn für viele zur Witzfigur verkommen. Aber vielleicht sollte man froh sein, dass bislang jedenfalls kein Charismatiker aufgetaucht ist, der sich als Vollstrecker irgendeines Schicksals inszeniert und bereit ist, dafür sein Land zu opfern.
Hier, lieber Leser, endet mein Bericht, denn seit einigen Minuten schon war es in der Sushi-Bar sehr unruhig geworden, was auch die beiden Freunde nicht mehr ignorieren konnten. Einige der Gäste flüsterten miteinander, andere starrten ungläubig auf ihre Smartphones. Ich holte mein Tablet hervor und las: +++ Eilmeldung: Putin greift Kiew mit taktischer Atombombe an +++
Commentaires