Assistierter Suizid, Depression und Rationalität
- Felix Thiele
- 26. Juni 2022
- 2 Min. Lesezeit
Gerade diskutieren wird wieder über den assistierten Suizid, also die Frage, wer sich unter welchen Bedingungen und von wem dabei helfen lassen darf, sein Leben in einer achtsam begleiteten Art und Weise zu beenden, statt sich irgendwo allein, eine Tüte über den Kopf zu ziehen und qualvoll zu ersticken.
Ein Neunzigjähriger bittet um assistierten Suizid. (Ein fiktiver Fall, der leicht in der Praxis vorkommen kann.) Der Mann ist in einer altersgemäß guten körperlichen Verfassung, schwere körperliche Erkrankungen sind bei ihm nicht bekannt. Es ist somit nicht zu erwarten, dass er demnächst eines natürlichen Todes sterben wird. Als Grund für seinen Suizidwunsch gibt der Mann an, genug vom Leben zu haben. Er hat eine beachtliche Karriere gemacht; das aber ist lange her. Seine Freunde sind alle längst tot, Familie hat er keine. Seine körperliche und geistige Leistungsfähigkeit nimmt kontinuierlich ab. Er habe ein erfülltes Leben gehabt, aber nun sei es genug.
„Dieser Mann ist eindeutig depressiv!“ hört man jetzt die Gegner des assistierten Suizids rufen. Dazu kann ich nur sagen: „Ja, was soll er denn sonst sein?“ Mehr noch, man müsste fast schon an der psychischen Gesundheit des Mannes zweifeln, wen er nicht über seine Situation traurig wäre, wenn er nicht wenigstens eine depressive Verstimmung hätte. Sein Wunsch, zu sterben ist nachvollziehbar, ja gewissermaßen ist er sogar rational. (Was nicht bedeutet, dass eine andere Person, die sich in einer ähnlicher Situation anders entscheidet, deshalb irrational wäre.)
Die Argumentation des alten Herrn kann man kritisieren und eventuell für ungültig halten, so dass man ihm den assistierten Suizid verweigert. Was man nicht tun sollte, ist von vornherein auszuschließen, dass sein Anliegen berechtig sein könnte, mit der Begründung, ein Suizid-Wunsch sei sehr häufig (nach Studienlage bis 90%) mit einer psychischen Störung verbunden, meist einer Depression wie im vorliegenden Fall. Eine psychische Störung stelle die Freiverantwortlichkeit eines Suizid-Wunsches und damit auch seine Legitimität in Frage. Natürlich ist ein schwer depressiver Patient, der ohne jeden Antrieb den ganzen Tag auf einem Stuhl hockt und still vor sich hin weint, nicht in der Lage eine solche Entscheidung zu treffen. Aber was ist mit den anderen?
Das Leben stellt uns vor viele Herausforderungen, die wir längst nicht alle meistern. Wenn wir Glück haben, bilden wir aber eine emotionale Resilienz aus; eine durch Lebenserfahrung geübte Fähigkeit, Gefühle und Stimmungslagen in den eigenen Entscheidungen zu berücksichtigen, ohne sich von ihnen überwältigen zu lassen. (Letzteres kommt natürlich auch vor und stellt dann die Freiverantwortlichkeit in Frage.) Grundsätzlich sollten wir größeres aber deshalb nicht wahlloses Vertrauen in die Entscheidungskompetenz leidgeprüfter Menschen haben. Wer sich dazu entschließt, seinem Leben ein Ende zu setzten, und dies auch gut begründen kann, verdient unseren Respekt (vielleicht auch unsere Hilfe), aber nicht den Verlust seiner Freiheit.
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