Als unsere Demokratie verschwand
- Felix Thiele
- 25. Okt. 2020
- 5 Min. Lesezeit
Aus den Trümmern des Präsidentenpalastes wurde vor einigen Tagen ein Tablet geborgen, das nur leicht versengt war und dessen Daten noch ausgelesen werden konnten. Das Tablet gehört offenbar Karl Bucherer, dem Schwiegersohn des Präsidenten. Er befindet sich derzeit, wie die meisten Regierungsmitglieder bei den regierungstreuen Truppenteilen im Osten des Landes, während die Hauptstadt von den Rebellen gehalten wird. Unter den gesicherten Files aus Bucherers Tablet befindet sich eines, dass offenbar den Text der Rede enthält, die er am Tag seiner Amtseinführung als Stellvertretender Regierungschef halten wollte, was aus bekannten Gründen nicht geschah. Der Text wird hier erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Es besteht kein Zweifel mehr, dass die Rebellen die Kontrolle über die von ihnen besetzten Gebiete bald verlieren werden. Und da der Präsident in den Monaten vor seinem virus-induzierten Schlagfall die wesentlichen Institutionen mit ihm treu ergebenen
Leuten oder Mitgliedern seiner Familie besetzt hat, dürfte auch der Aufstieg von Bucherer zum Präsidenten nur noch Formsache sein. Der nachstehende Text ist somit gewissermaßen die erste Rede des ersten nicht mehr demokratisch legitimierten Präsidenten unseres Landes.
* * *
Ein Unwetter zieht herauf, ein Unwetter, dass die Errungenschaften, die unsere Vorväter über Generationen geschaffen und in vielen Kriegen mit ihrem Blut verteidigt haben, zu vernichten droht. Unser geliebtes Vaterland wird angefeindet, von Ländern, die neidisch auf uns sind, weil sie genau wissen, dass unser Land das erfolgreichste und schönste Land ist, das jemals auf diesem Planeten existiert hat. Aber wir müssen wachsam sein, denn unsere Neider wissen genau, dass sie uns niemals übertreffen können. Deshalb wollen sie unser Land lieber zerstören, als es zu bewundern. Und wie versuchen sie unser Land und euch Bürger, zu erniedrigen und uns zu schaden? Sie überfluten mit ihren billigen, minderwertigen Waren unsere Märkte, sie zerstören unsere Industrie und eure Arbeitsplätze! Warum? Weil sie nicht fair mit uns umgehen wollen. Aber ich sage euch, wir werden dass nicht weiter zulassen, wir werden mit allen nötigen Mitteln zurückschlagen und sie weitaus härter treffen, als sie uns. Unser Land wird bald wieder das angesehenste Land des Planeten sein.
Und unser so genannten “Verbündeten”? Sie wollen nur unseren Schutz, aber bezahlen wollen sie dafür nicht! Ist das fair? Nein, ist es nicht. Unser Land lässt sich nicht mehr behandeln, wie ein gutmütiger Onkel, dem man die Münzen aus der Tasche zieht, nein! Wer unser Verbündeter sein will der muss auch so handeln, oder er wird nicht mehr unser Verbündete sein. Wer nicht mit uns ist, der ist gegen uns! Aber unser geliebtes Land, unser von Gott dem Allmächtigen so gesegnetes Land wird ewig bestehen, denn wir, wir werden dafür kämpfen, und wir werden siegen!
Aber lasst euch nicht täuschen! Wir haben auch Feinde im eigenen Land! Die verbrecherischen Regierungen vor uns haben sie ins Land geholt und sie kommen weiter aus allen Richtungen. Sie sind nicht willkommen und trotzdem kommen sie. Und sie sind arm, sie kommen mit ihren zahllosen Kindern, ihren zahnlosen Alten und wollen Hilfe, wollen Essen, Wohnungen, und Jobs! Aber sie nehmen eure Jobs, nehmen euer Geld und eure Mädchen. Wir werden niemanden mehr ins Land lassen, wir werden auch die, die in der Vergangenheit hierher gekommen sind, wieder zurückschicken. Das verspreche ich euch, das schwöre ich euc!
Dunkelheit legt sich auf die Welt. Und bald wird eine Zeit kommen, die das Schicksal aller bestimmen wird. Aber wir werden siegreich aus diesem Kampf hervorgehen - für unser Land!
* * *
Karl Bucherer hat aus dem Hintergrund agierend, schon die Kampagne zur Wiederwahl seines Schwiegervaters geleitet und ist, das konnte jeder sehen, der es sehen wollte, in der Verfolgung seiner Ziele vollkommen skrupellos. So lies er in einer schwierigen Phase der Wiederwahlkampagne, eine Wahlkampfveranstaltung des Präsidenten mit Unterstützern und Sponsoren im Garten des Regierungspalastes stattfinden. Ein klarer Rechtsbruch, denn Amtsgebäude dürfen nicht für Wahlkampfzwecke genutzt werden. Staatliche Institutionen sind Bucherer nur etwas wert, solange sie der Durchsetzung seiner Agenda dienen.
Der Präsident starb unter noch nicht geklärten Umständen kurz nach der Wahl. Zwar hat der gegnerische Kandidat Jonas Rodriguez einen deutlichen Wahlsieg davongetragen, doch hat die Partei des Präsidenten dieses Ergebnis kommen sehen und war vorbereitet. Hunderte Juristen, die über parteinahe Organisationen koordiniert werden, überziehen die Gerichte seit der Wahl mit tausenden von Klagen wegen vermeintlichen Wahlbetrugs. Diese Strategie, die noch nicht einmal illegal zu sein scheint, ist angelehnt an die DDoS-Attacken im Internet, bei denen dezentral organisierte Netzwerke durch die schiere Menge an Mails gezielt ausgewählte Server über Stunden wenn nicht Tage lahmlegen. So ist auch unser Justizsystem derzeit vollkommen überfordert. Offenbar haben wir den Willen der Parteigänger des Präsidenten an der Macht zu bleiben unterschätzt und müssen nun so gut wie machtlos dem Zerfall unserer staatlichen Institutionen zusehen. Im Gegensatz dazu erscheint der verstorbene Präsident jetzt fast wie ein naiver, harmloser Staatsschauspieler.
Nach dem Tod des Präsidenten gab es im ganzen Land Unruhen, teils entzündeten sie sich an konkreten Ereignissen von übermäßiger staatlicher Gewalt gegen Demonstranten. Auf der anderen Seit gab es auch, wie man annehmen darf, gezielte Provokationen seitens staatlicher Akteure aber auch seitens der Opposition. In der Folge eskalierte die Gewalt und es kam zum Sturm regierungsfeindlicher Milizen auf die Hauptstadt, zu Plünderungen und zur Zerstörung des Präsidentenpalastes. Die meisten der führenden Köpfe der Regierung konnten sich aus der Stadt absetzen und werden nun von der weitestgehend loyal gebliebenen Armee geschützt. Noch während des Rückzugs aus der Hauptstadt verhängte Bucherer das Kriegsrecht und ließ Rodriguez festnehmen unter dem absurden Vorwurf, von seinem Wochenendhaus aus ein Drogenkartell zu leiten.
Das Auftreten der Suprematoren schließlich hat unsere Demokratie endgültig zerstört. Die Sueprematoren sind in den vergangenen Jahren an vielen Orten unseres Landes als kleine paramilitärische Gruppen gegründet worden. Sie handelten im Halbschatten der Legalität und radikalisierten sich in ihrem Hass auf alles Fremde immer weiter. Zunächst verübten sie nur einzelne Anschläge, die meist nur wenig Schaden anrichteten. Wie sich erst später herausstellte, planten und übten sie auch die Entführung von hohen Repräsentanten des Staates in den Landesteilen, die nicht von der Präsidentenpartei regiert werden. Der Präsident stellte sich nie entschieden gegen die Suprematoren. Noch vor einigen Jahren wäre es unvorstellbar gewesen, dass ein Regierungschef unseres Landes sich innerstaatlichem Terror nicht mit allen Mitteln entgegen gestemmt hätte. Da aber auch aus der radikalisierten Opposition heraus Milizen gegründet wurden, war es für den Präsidenten gar nicht mehr nötig, seine zustimmende Haltung zu den Suprematoren zu verschleiern. Er stellte sie einfach als aufrechte Bürger dar, die bereit sind unser Land gegen innere Feinde zu verteidigen und dafür ihr Leben aufs Spiel setzen. Mittlerweile operieren die Suprematoren als direkt aus der Regierung geleitete Spezial-Truppe und man hört von ersten Säuberungsaktionen, die sie in verschiedenen Landesteilen durchführen. Auf welcher legalen Grundlage all dies geschieht, ist angesichts der tatsächlichen Machtverhältnisse bedeutungslos geworden.
* * *
„Die Geschichte hast Du Dir aber schön ausgedacht, Papa“ sagt meine Tochter, nachdem sie den Text durchgelesen hat. „Aber Du glaubst doch nicht“, fährt sie fort, „das so etwas bei uns passieren kann, oder?“ „Nicht wirklich,“ antwortete ich etwas verhalten, „In ein paar Monaten ist Wahl, und dann ist der Spuk vorbei.“ Hoffen wir, dass ich recht habe.
Comments